
Die Morgenluft war noch recht kühl, doch der wolkenlose Himmel versprach einen weiteren wunderschönen Spätsommertag. Sven, Markus und Dirk verließen nach dem zeitigen Frühstück das luxuriöse Wellness-Hotel und fuhren gemeinsam zum Hefter Parkplatz, wo sie ihr Auto abstellten, dem Kofferraum ihre mit Trinkflaschen und Broten gefüllten Rucksäcke entnahmen und die Schnüre ihrer schweren Wanderschuhe noch einmal festzurrten.
Von dort wollten sie zu einer Bergwanderung aufbrechen, die sie nach ca. 14 km wieder an den Ausgangspunkt zurückführen würde. Nach Dr. Google könnten sie die Tour in ca. viereinhalb Stunden ohne Pausen schaffen. Die Pausen würden sie sich allerdings gönnen. Der erste Anlaufpunkt war die Rachlalm nach ca. vier Kilometern, immer bergauf.
Die drei Freunde waren durchtrainiert und hatten eine gute Kondition. Die als mittelschwere Wanderung angegebene Tour mit überwiegend begehbaren Wegen dürfte für sie kein Problem sein.
Ihre Frauen hatten sie in dem Wellness-Hotel am Chiemsee zurückgelassen. Bei der Hitze wollten sie sich nicht so quälen, hatten sie gesagt. Den Männern war es recht, so mussten sie keine Rücksicht nehmen und ständig Pausen einlegen, sich das Gejammer über Blasen oder Muskelkater anhören.
Zügig marschierten sie bergauf und kehrten nach einiger Zeit in den Gasthof auf der Rachlalm ein. Von der Terrasse aus hatten sie einen herrlichen Blick über die grünen Wiesen, auf denen Kühe weideten. Hier ließen sie sich ihre erste Maß schmecken. Den Ratschlag ihrer Frauen, unterwegs weniger Bier zu trinken, stattdessen die mitgebrachten Trinkflaschen zu leeren, ignorierten sie geflissentlich. Der erforderlichen Trittsicherheit stand die Maß Bier auf jeden Fall nicht im Wege. Bereits nach weiteren 1,8 km genossen sie einen wunderschönen Ausblick auf die Insel Frauenchiemsee, die man nur per Schiff erreichen kann. Ihren Frauen zuliebe hatten sie die Insel mit ihren hervorragenden Speiselokalen und den kleinen Geschäften bereits mehrfach besucht.
Der Blick auf die Berge, der am höchsten Punkt in ca. 1100 m Höhe als Wander-Highlight beschrieben wird, ließ sie eine Weile innehalten. Von dort ging es bereits wieder bergab und sie strebten zielsicher ihrem nächsten Biergenuss auf der Staffn-Alm zu, die inmitten von saftigen Wiesen ein weiteres Wander-Highlight versprach. Die Hälfte ihrer Tour hatten sie bereits hinter sich. Sie ließen sich Zeit, genossen den schönen Ausblick, die Maß Bier und ihre Brotzeit.
Mit anderen Wanderern tauschten sie ihre Erfahrungen bei den verschiedenen Wanderungen rund um den Chiemsee aus und erfuhren Vor- und Nachteile von Wegen, die sie bisher noch nicht begangen hatten.
Schließlich brachen sie wieder auf, passierten nach wenigen Metern die Bergstation Hochplattenbahn, um nach weiteren Schritten die Drachenflieger, die sich von einer Startrampe in die Lüfte schwangen, zu beobachten. Bisher hatten sie sich nicht getraut, diese Sportart auszuprobieren, ihnen war fester Boden unter den Füßen und der Aufstieg zum nächsten Gipfel lieber.
Nach mehreren Stunden konnten sie schließlich einen atemberaubenden Ausblick auf Grassau genießen. Hier legten sie sich auf die Wiese, ließen sich die Sonne auf den Bauch scheinen, atmeten die herrliche Bergluft ein, fühlten sich frei, fernab von der Zivilisation ohne Motorenlärm von Autos und Flugzeugen, nervendem Kindergeschrei und lästigen Touristen. In der Ferne vernahmen sie nur das Gebimmel der Kuhglocken, die ab und zu die Stille unterbrachen.
Das war ein Urlaub nach ihrem Geschmack, waren sich die drei Freunde einig, die sich seit dem Kindergarten kannten und jedes Jahr im Urlaub auf einander trafen, um die Bergwelt zu erkunden. Dabei waren ihnen die Berge rund um den Chiemsee, den drittgrößten See Deutschlands, am liebsten. Beim Wandern im Chiemgau konnte man sich an einem weiten Blick über die Voralpen und verlockende Seen, deren Wasseroberfläche in der Sonne wie tausend Diamanten funkelten, erfreuen.
Während der Wanderungen tauschten die drei Freunde die neuesten Familiengeschichten sowie ihre Erfahrungen im Berufsleben aus. Hier konnten sie sich mal so richtig auskotzen, sich Ratschläge holen oder gegenseitig trösten, eines konnten sie gewiss sein, dass es nicht weitergetragen wurde, schon gar nicht an ihre besseren Hälften. Bei ihren Frauen fanden sie leider wenig Gehör, wenn es im Beruf mal nicht so klappte. Die Damen waren mit sich selbst und der Pflege ihrer Schönheit, der Aufzucht der lieben Kinderlein und den gesellschaftlichen Events beschäftigt. Da machten sich die Männer dann lieber vom Acker bzw. auf den Berg.
In ca. 800 m erreichten sie die Hefteralm, die letzte Jausenstation auf ihrem Weg, bevor sie die abschließenden 4 Kilometer zum Parkplatz zurücklegen wollten. Auch hier waren die Wege mit Kies belegt und der Abstieg auf 600 m war leicht zu bewältigen.
Sven verdrückte sich zwischenzeitlich in ein Gebüsch, um die letzte Maß loszuwerden. Dabei schreckte er einen Schwarm Mücken auf, die den feuchten Strahl gar nicht lustig fanden. Mit der freien Hand versuchte er, die lästigen Flieger zu vertreiben, dabei verirrte sich einer der erschreckten Brummer in seinen Mund und von da an abwärts in Richtung Magen. Er begann zu würgen, wollte das lästige Insekt schnellstmöglich wieder loswerden.
Die beiden Freunde eilten erschrocken zum ihm, klopften ihm auf den Rücken, doch es half alles nichts. Svens Gesicht lief an wie eine reife Tomate. Markus holte seine letzte mit Wasser gefüllte Trinkflaschen hervor und hielt sie ihm an den Mund. „Hier, trink. Dann wird es dir gleich besser gehen.“
Sven schluckte und schluckte, leerte die ganze Halbliterflasche mit dem mittleerweile lauwarmen Getränk. Dann ging es ihm besser. Als Biologe wusste er ja, dass sich das arme, verirrte Tierchen in seinem Magensaft schnell auflösen würde und er beruhigte sich wieder. Nachdem alles wieder an seiner richtigen Stelle saß, gingen die drei Freunde weiter talabwärts. Die Sonne schickte immer noch wärmende Strahlen vom Himmel und die drei freuten sich bereits auf das nächste Bier auf der Terrasse des Wellness-Hotels. Nach zehn Minuten begann Sven zu taumeln. Sein Gesicht war kreidebleich, auf seiner Stirn standen Schweißtropfen. Während er mit der einen Hand seinen Bauch hielt, klopfte er sich energisch gegen die Stirn. „Ich glaube, das letzte Bier war schlecht“, lallte er. Er begann zu röcheln, rang nach Luft. Dann brach er zusammen, blieb leblos auf dem Kiesweg liegen. Alle Versuche, ihn wieder zu beleben, blieben erfolglos. Die eilig von Passanten informierte Bergrettung konnte nur noch seinen Tod feststellen.
Die Freunde konnten den plötzlichen Tod ihres Freundes nicht fassen. Sie berichteten dem Notarzt und auch der Polizei, die in solchen Fällen alarmiert werden muss, was sich in den letzten Stunden zugetragen hatte. „Sven war ein guter Sportler, er ist viel Rad gefahren und Halb-Marathon gelaufen. Ich kann nicht glauben, dass er der Hitze zum Opfer gefallen sein soll. 25 Grad können ihm doch nicht ernsthaft etwas anhaben“, widersprach Dirk der Aussage des Notarztes, der einen Hitzetod diagnostizierte.
„Merkwürdig war auch das Röcheln, bevor er zusammenbrach. Das passt meines Erachtens nicht zu einem Hitzschlag“, erklärte nun Markus, der als praktizierender Apotheker eine Meinung dazu hatte.
Svens Frau Uschi war ebenso fassungslos wie die beiden verbliebenen Freunde. Sie konnte nicht fassen, dass ihr Mann nicht mehr lebend zurück zu ihr gekommen war. Sie glaubte auch nicht an die Diagnose des Notarztes und bestand auf einer Obduktion. Das Ergebnis der pathologischen Untersuchung war allerdings erschreckend.
Der Rechtsmediziner konnte K.O. Tropfen in Svens Blut nachweisen, die er offensichtlich mit dem Wasser, das Markus ihm gereicht hatte, zu sich genommen hatte. In Verbindung mit den mehreren Maß Bier, die er getrunken hatte, hatten die K.O. Tropfen ihre tödliche Wirkung erlangt. Doch wie war die Droge in das Wasser gekommen?
Nun musste sich die Polizei mit dem Tod von Sven beschäftigen. Ziemlich schnell fanden die Kripobeamten heraus, dass Bettina, die Frau von Markus, die Wasserflasche ihres Mannes mit den K.O. Tropfen präpariert hatte. Sie hatte Markus nicht töten wollen, versicherte sie ihrem dem Anschlag entgangenen Mann und der Polizei. Sie hatte ihn nur schachmatt setzen wollen, damit er sich mehr mit ihr und den Kindern im Urlaub beschäftigte. Dass nicht er, sondern Sven aus der Flasche trinken würde, konnte sie ja nicht ahnen.
Von Jule Heck